Wir haben den 11. September überlebt
Sonntag, 25. September 2011, 02:05
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Sie sind mutiger geworden, spiritueller, patriotischer und stärker. Ein Porträt über Menschen, für die der 11. September zum Schicksalstag wurde.Wie viel lieber spräche Pater Kevin Madigan nicht über jenen Todestag. Sondern von dem neuen Leben, das sein Viertel in Tribeca durchblutet, von der ersten Kommunion in 50 Jahren und den Kinderkreidezeichnungen auf der Straße. Heute leben 60.000 Menschen hier, schwärmt er in atemloser Begeisterung, drei Mal so viele wie vor „9/11“, als abends und an den Wochenenden die Straßen um St. Peter’s geisterhaft verlassen lagen. Mit den Familien kam Lebenslust und Glaube zurück. Der Pater jubiliert.Fast müssen wir ihn ermahnen, auf den Tag zu sprechen zu kommen, als St. Peter’s, gegründet 1795 und die älteste katholische Gemeinde der Stadt wie des Staates New York, ein Feldhospital wurde. Und ein Leichenschauhaus. Die Kirche an der Ecke Barclay und Church Street lag keine Minute Fußweg zu den Türmen des World Trade Center. Es langweilt Madigan, immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen. Er spricht hastig, ungeduldig. Umso gefangener und ergriffener sind über die vergangenen zehn Jahre seine Zuhörer.Ein Flugzeugrad stürzte durch die KirchendeckePater Madigan, damals 55 Jahre alt, hatte die Messe gelesen und Beichten abgenommen, als das erste Flugzeug einschlug. Er lief auf die Straße und starrte ungläubig empor wie alle anderen. Er begriff rasch, dass er gebraucht würde für Beistand und Sterbesakramente. Und er erinnert sich, dass er den Blick abwandte, als die ersten Verzweifelten aus den Türmen sprangen.Eine Wasserflasche zerplatzte wie ein Geschoss an der Mauer neben ihm, ein Rad vom Fahrwerk eines Jets schlug fauchend ins Dach von St. Peter’s, als das zweite Flugzeug aufprallte und Feuer und Trümmer und Tod spie. Er erinnert sich an einen Regen aus Papieren und Fotos, Bankdokumente und Familienbilder gingen auf die erstarrte Menge nieder.Als der erste Turm unter dem entsetzlichen Stöhnen des Stahls zusammensackte, rannte Pater Madigan in einen U-Bahn-Eingang, viele folgten ihm. Es dauerte Stunden, bis er zurückkehren konnte. Er fand 30 Leichname auf dem Boden seiner Kirche. Fassungslose Überlebende und Helfer versuchten einander zu trösten. Er habe keine Antwort auf die Frage „Wo war Gott an ,9/11′?“, sagt Pater Madigan. Viele stellen sie – ihm und sich selbst. Er wisse nur, dass Gott da war, als in den Tagen und Wochen danach die New Yorker eine Mitleidensfähigkeit und Güte zeigten, die sie nie in sich erahnt hatten.Ground Zero ist kein FriedhofHat er je in seiner Gemeinde Menschen von einer „Strafe Gottes“ reden hören, für die Hoffahrt und Verderbtheit der modernen Welt? Nein, schnaubt Madigan, niemals. Es wäre auch gotteslästernder Unsinn. „Das war ein mörderisches Menschenwerk.“ Er lässt Religion nicht gelten als veredelndes Motiv für den Mord, nicht bei den Opfern oder den Tätern. Er weigert sich auch, Ground Zero einen „geheiligten Grund“ zu nennen und zum Friedhof zu weihen.In den ersten Tagen seien sie alle durch die braune Asche auf den Straßen gelaufen, ahnend, dass sie auch durch ein Krematorium schritten. Doch könne man so nicht leben, und es sei auch nicht recht, Ground Zero als Massengrab zu sehen. Überhaupt: „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich es sage: Aber es hat schlimmere Katastrophen in der Geschichte der Menschheit gegeben, weit schlimmere. Nur weil Milliarden Menschen die Bilder von ,9/11′ sahen, ist es nicht in Ordnung, das Verbrechen in seinem Schrecken über alle anderen zu stellen.“Ende Mai habe er in Portugal einen Vortrag über „9/11“ gehalten, und er habe seine Zuhörer daran erinnert, dass bei dem Erdbeben von Lissabon 1755 ein Großteil der Bevölkerung starb.Pater Madigan ist ein politischer Mann, und er ist zornig darüber, dass sein Land, wie er meint, falsche Lehren aus den Anschlägen gezogen hat: „Wir leben mit permanenten Kriegen, und wir fühlen uns immer bedrohter und unsicherer. Wir ziehen die Schuhe aus am Flughafen, in der U-Bahn starren wir auf die Plakate, die uns zur Wachsamkeit ermahnen, die New Yorker fühlen sich heute gefeit gegen Straßenkriminalität, aber vom Terror bedroht.“Und dann fragten sich die Leute immer noch allen Ernstes, warum Amerika in der Welt bei manchen zu verhasst sei. Die wenigsten Amerikaner hätten verstanden, was wirklich hinter dem Hass und dem Terror stecke, sie hätten es nie wissen wollen, fürchte er.Von Trauer und GlaubenDarüber kann man sicher streiten. Nicht zu bestreiten ist Pater Madigans Leidenschaft als Priester und Seelsorger, es gibt nichts, was ihm für seine Gemeinde zu schwer wäre. Wenn er am zehnten Jahrestag predigt (der Erzbischof wird nach St. Peter’s kommen; vielleicht auch Präsident Obama), mag er daran erinnern, dass Menschen aus 84 Ländern in den Türmen und den Flugzeugen starben, nicht nur Amerikaner.Er weiß es noch nicht. Es könnte auch sein, dass er abermals verkündet, was für ihn die einzige frohe Botschaft jenes entsetzlichen Tages ist: „Kein Anruf, kein letzter Gruß, den Todgeweihte aus den Türmen ihren Lieben auf Band sprachen, war hasserfüllt, kein einziger verlangte Rache. Alle sprachen nur davon, wie sehr sie liebten und geliebt wurden, und dass man sie nicht vergessen möge.“Es scheint, als hätten diese Botschaften dem Gottesmann Kevin Madigan den Glauben an die Menschen zurückgegeben und noch gestärkt. „Als die Türme vor unseren Augen zu Staub zerfielen“, predigte der Pater im September 2002, am ersten Jahrestag der Anschläge, „da sahen wir einander an und erkannten, wo unsere wahre Kraft und wahre Macht liegt.“ Man wünschte, es gelte auch noch 2011.Lee Ielpis Vorfahren mögen Polizisten in Palermo oder Anwälte in Rom gewesen sein – er aber widmete sein Leben der New Yorker Feuerwehr. Und er opferte ihr seinen Erstgeborenen. Jonathan Ielpi war 29 Jahre alt, als er am 11. September 2001 mit seinen Kameraden in die brennenden Türme des World Trade Center stürmte. Neun Monate lang suchte sein Vater auf Ground Zero nach Jonathan und anderen; jeden Morgen traf sich Lee mit anderen Vätern auf dem Trümmerfeld. Lange nachdem er aufgegeben hatte, erhielt er den Anruf: „Lee, wir haben Jonathan gefunden.“ Sie begruben, was von ihm übrig war.Bis heute sind 1125 Menschen, die an „9/11“ starben, spurlos verschwunden. Kein Zahn, kein Staub, so schrecklich es ist, kein erlösender Todesbeweis. Lee verlor Jon und 90 Männer, die er Freunde nannte. Es bleiben ihm drei erwachsene Kinder; auch Brandan, der jüngste Sohn, ist Feuerwehrmann. „Ich habe inbrünstig gehasst, wie viele andere. Aber es war mir immer tröstlich“, sagt Ielpi, „dass Jonathan starb, während er tat, was er zu tun liebte.“Der Erzieher von Ground ZeroIelpi wollte und musste leben, er gab sein Gesicht und seine Kraft den Hinterbliebenen: September 11th Families Association. Sein Name wird ständig und hochachtungsvoll genannt, wenn man mit Angehörigen spricht. Lee hat sich nicht gedrängt nach dem Funktionärsamt, „ich ginge viel lieber mit meiner Familie fischen, jagen, bergwandern. Und bald, wenn meine Mission hier erfüllt ist, werde ich nur noch das tun.“Der Tod Jonathans zerriss ihm das Herz. Linderung versprach allein die Mission, anderen mit zerrissenen Herzen zu helfen und zu einem Erzieher und Prediger der Lehren von „9/11“ zu werden. Ielpis Antwort war Tribute WTC, die erste, provisorische Gedenkstätte mit den Geschichten, Bildern, Helden- und Verzweiflungstaten jenes Tages.Zeitzeugen führen durch das Loch im Herzen StadtDie Walking Tours, geführt von Zeitzeugen, die Angehörige verloren haben oder den Türmen entkommen sind, begannen 2006. Bis heute kamen 2,3 Millionen Besucher. „Sie sollen es verstehen. Aufklärung ist der Schlüssel, nur mit ihm können wir sicherstellen, dass der Tod der 2749 Ermordeten in New York nicht umsonst war.“ Ielpi hat alle Zahlen quälend genau im Kopf: „1365 starben über der Aufprallzone im North Tower, 595 im South Tower; sie hatten nie eine Chance.““Wussten Sie, dass nur 174 (vollständige) Leichname gefunden wurden?“ Die anderen Angehörigen mussten ein Stückchen Haut beisetzen, einen Finger. „19 979 menschliche Überreste, die genug DNS für eine Identifizierung hergaben, wurden auf Ground Zero gefunden.“Ielpi erzählt von der Qual von Hinterbliebenen, die 15 oder 20 Mal wegen immer neuer Funde angerufen werden. Die gerichtsmedizinische Identifizierung wird noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern. Angehörige können nach dem ersten Fund wählen, ob sie danach nie mehr informiert werden wollen. Oder nur, wenn alle Teile erfasst wurden. „Ich kenne eine Frau, die eines Tages den Anruf erhielt: ‚Wir haben ihren Mann identifiziert.‘- ‚Was haben Sie gefunden?‘, fragte sie. – ‚Sein Herz, Madam, wir haben sein Herz gefunden.'“Kaum Wissen über „9/11″Wenige können so überzeugend für die Mehrheit der Angehörigen sprechen wie Ielpi. Eine kleine Gruppe, erzählt er, sei zornig und verbittert: Weil ihnen alles zu lange dauerte, Museum, Entschädigung, Wiederbebauung. Zu viel politische Eitelkeiten und kalte Geschäftsinteressen waren im Spiel. Ielpi klagt nicht; Tribute WTC lebt und wird sich in die große Gedenkstätte einfügen. Er hat getan, was er konnte, und tut es weiter.Nur eins bringt ihn in Rage: wenn „9/11“ vergessen oder, „aus politischer Korrektheit gegenüber Muslimen“, nicht gelehrt wird. „Ich habe von einer 15-Jährigen gehört, die in Tribute plötzlich ausrief: ‚Ich hatte geglaubt, das war 1911.‘ Eine andere fragte, wer eigentlich dieser Osama Bin Laden sei.“In keinem US-Bundesstaat zähle „9/11“ zum Pflicht-Lehrplan für Grund- und Mittelschulen – allein die Lehrer würden entscheiden, ob der Stoff interessant sei. „Man muss sich das vorstellen: Nicht einmal in New York müssen die Kids lernen, was geschah. Aus Feigheit und Furcht, jemandem zu nahe zu treten, wenn wir daran erinnern, dass jeder der Attentäter den Namen Allahs im Mund führte, als er mordete.““Ich hasse es, mich zu erinnern“Ielpi ist kein Kreuzzügler, der pauschal den Islam für terroristisch hält. Er will nichts Tendenziöseres als die Wahrheit über die Anschläge und die Hintergründe. Er habe mit Senatoren und Ministern den Skandal immer wieder angesprochen. Alle stimmten ihm zu, keiner machte ihm Hoffnung, dass Amerikas Schulen die Wahrheit über „9/11“ verbreiten dürften und müssten. Zu heikel, heißt es: „Worauf warten wir“, ruft Ielpi aufgebracht aus, „auf eine schmutzige Bombe?“Wie geht es Jonathans Familie, zumal den Söhnen Austin (heute 13) und Andrew (heute 20)? „Nicht so gut“, sagt der Vater und Großvater. „Andrew ist in Schwierigkeiten geraten; weiter will ich dazu nichts sagen.“ Das Schlimme für die Hinterbliebenen von „9/11“ sei, dass sie nie vergessen könnten. Es vergehe kein Tag, ohne dass an das Datum erinnert werde. „Und ich hasse es, mich zu erinnern“, sagt Lee Ielpi, „gleichgültig, ob an Gutes oder Schlechtes. Ich wünschte, es gäbe eine Pille, die alle Erinnerung löschte.“Bonnie McEneaney weiß, was wir denken: Dass sie, respektvoll gesagt, nicht ganz richtig ist im Kopf. Sie verargt es niemandem. Das denken alle ihre Gesprächspartner, die gewöhnlich nicht an Séancen teilnehmen oder sonst mit dem Jenseits im Gespräch sind. „Ich war auch immer skeptisch“, beteuert sie. Ihr Buch „Botschaften – Zeichen, Besuche und Vorahnungen von geliebten Menschen, die wir an ,9/11′ verloren“ liegt auf dem Tisch.Um uns herum reden und lachen Menschen im dicht besetzten Tea Room des „Walldorf Astoria“ in Manhattan. Ahnten sie, was McEneaney uns erzählt, was sie und andere „9/11“-Angehörige erlebt haben, sie würden aus Entsetzen und Pietät flüstern. Oder einfach zuhören.“Ich wünschte, er wäre auf der Stelle tot gewesen“Eamon McEneaney arbeitete im 105. Stockwerk des Nordturms bei Cantor Fitzgerald. Und er ahnte, dass er durch einen Terroranschlag sterben würde, davon ist seine Witwe überzeugt. Schon weil er den ersten Anschlag 1993 auf das World Trade Center überlebt hatte; damals hatte er 60 Kollegen durch das Treppenhaus in Sicherheit geleitet.In den Tagen vor dem 11. September, so erinnert sich Bonnie McEneaney, sprach Eamon davon, dass er die Belegschaft diesmal aufs Dach führen würde: Sie fürchtet, dass er es versucht hat; die Türen zum Dach waren verschlossen. „Ich wünschte, er wäre auf der Stelle tot gewesen, aber ich glaube es nicht.“Sie hat zu Eamon aufgeschaut. Er war stark, ein Athlet und Leader. Seine Kinder Brandon (damals 12), Ginnie (8) und die Zwillinge Kevin und Kyle (6) verehrten ihren Vater, sagt Bonnie McEneaney. Als er von Todesahnungen sprach, glaubte sie, er sei depressiv; als er Schwindelanfälle hatte, hielt sie ihn für überarbeitet. In ihrem letzten Gespräch am Sonntag, den 9. September, während der Premiere der Kriegsfilmserie „Band of Brothers“ von Steven Spielberg habe Eamon den Todesmut der jungen Fallschirmspringer am D-Day über der Normandie plötzlich ominös kommentiert: „Sie müssen solche Angst gehabt haben“, sagte er. Dann, nach einer Pause: „Aber ich will, dass du weißt: Ich bin bereit.“Lange, verzweifelte Tage konnte die Familie nicht fassen, dass Eamon tot war. Sie forschten in Krankenhäusern, bei Freunden, bei Notdiensten. Einmal entfuhr Bonnie McEneaney vor ihrer Haustür der Schrei: „Eamon, zeig uns, wo du bist, ich ertrage es nicht länger!“ Es sei völlig windstill gewesen, sagt sie.Dann sei eine Böe in einen Baum gefahren, weiter zum nächsten getanzt, habe mit ihrem Kleid gespielt und sei jäh erstorben. „Ich wandte mich um, ging hinein und eröffnete meiner Familie: ‚Hört auf, nach ihm zu forschen; er ist tot, ich weiß es.'“Niemand habe ihre Gewissheit angezweifelt. Lange fand sich keine Spur von ihm. Im Februar 2002 habe ihr Eamon ein zweites Zeichen gesandt: einen weißen Reiher, wie ihn ihr Mann von Urlauben bei ihren Eltern in Florida liebte, auf dem Friedhof im Schnee, nahe seines Grabes. Es war der Tag, an dem der Leichenbeschauer sie anrief: „Mrs. Eneaney, wir haben ihren Mann gefunden.“Zeichen aus dem JenseitsEs ist fast unmöglich, einer Witwe in die Augen zu sehen und ihr zu gestehen, dass man Mühe hat, ihr ihre Geschichte zu glauben. Wir haben es nicht vermocht. Zumal die Geschichte ihres Buchs „Messages“ erst dann begann. Bonnie McEneaney war tapfer, im Dezember 2001 kehrte sie zurück in ihren Job: Sie war Vizepräsidentin von Mastercard in Westchester (New York) und blieb es bis 2006. Über die Jahre hielt sie Kontakt mit anderen „9/11“-Angehörigen. Und als sie einmal ihre Scham überwunden hatte, von Eamons Lebenszeichen aus dem Totenreich zu sprechen, fand sie heraus, dass sie nicht allein war.Im Gegenteil. Sie berichteten von sonderbaren Notizen, die nach „9/11“ auftauchten und sich nur als Todesahnungen interpretieren ließen. Münzen tauchten an den seltsamsten Orten auf; in Teekannen oder, wie eines Tages bei ihr, in der Speisekarte eines Restaurant. Es war ein Penny, geprägt im Jahr 1944: „Das Jahr der Invasion, wie in ‚Band of Brothers‘.“Erst als sie genug „Beweise“ gesammelt hatte, machte sie sich an das Buch. Es verkauft sich gut, bei Amazon bekommt es zum Teil begeisterte Leserkritiken. Kein Zweifel, Bonnie McEneaney leistet Lebenshilfe mit ihrem Leid und ihrem Glauben an eine übernatürliche Welt: „Alle Zeichen sind positiv, freundlich, tröstlich. Nie habe ich gehört, dass sie Schrecken, Zorn oder Hass verbreiten.“Vor dem zehnten Jahrestag hat Bonnie McEneaney Angst. „Die Leute verstehen nicht, warum wir nicht endlich darüber hinwegkommen. Die haben keine Ahnung.“ Wie solle man denn je etwas überwinden oder wenigstens verdrängen, das täglich in den Nachrichten vorkomme? Besonders für die Kinder sei es hart.Auf der anderen Seite hätten ihr die Monate nach „9/11“ neuen Glauben an die Stärke des menschlichen Geistes gegeben. „Amerika ist und bleibt die Nation aus allen Nationalitäten, die sich durch ihre Freiheit definiert. Und wenn Amerika aufgerufen ist, sie zu verteidigen, ist auf uns Verlass.“Gary Marlon Suson ist der jüngste unserer „9/11“-Zeugen und der am tiefsten zerrissene. Seine Arbeit am Ground Zero, sieben Monate als einziger offizieller Fotograf der New Yorker Feuerwehr, hat ihm Ruhm gebracht und beinahe den finanziellen und gesundheitlichen Ruin. Suson (34) setzte sich freiwillig den Dämpfen, Stäuben und dem Trauma aus, um die Öffnung und Säuberung eines Massengrabs zu dokumentieren.Er nahm Kredite auf, litt schwer am „WTC Cough“, dem asthmaartigen Reizhusten der Arbeiter. Sein Fotoband „Requiem – Images of Ground Zero“ (2002) wurde ein Klassiker der „9/11“-Exegese. Susons Ein-Zimmer-Museum, „Ground Zero Museum Workshop“ versammelt 100 Bilder, Artefakte und von Suson gesprochene Erläuterungen vom Band zum „großartigsten kleinen Museum New Yorks“.Stolz und zufrieden könnte er sein. Wäre da nicht die Erinnerung an seinen Prozess, mit dem er sich gegen Verleumdung und Rufschädigung wehren musste: Als sie über ihn sagten, er sei ein habgieriger Schwindler, ein Leichenfledderer und ein Dieb.Die Leute haben genug von „9/11″Alles begann mit dem (über manche Zufälle an ihn ergangenen) Auftrag, die Bergungsarbeiten an Ground Zero zu dokumentieren. Ein einflussreicher Feuerwehrhauptmann namens Rudy Sanfilippo stellte drei Bedingungen: kein Gehalt, kein Verkauf von Bildern während der Arbeiten, keine Aufnahmen von Leichenteilen. Niemand zwang Suson, sich darauf einzulassen und sich so hoch zu verschulden, dass man ihm dreimal in den sieben Monaten den Strom abstellte.Die 55.000 Dollar Honorar von seinem Verlag deckten zunächst seine Unkosten. Dann kam der Husten, dann kamen Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Es ging ihm schlecht. Dass drei Museen es ablehnten, seine Sammlung von Ground Zero zu kaufen, machte es nicht besser.Die Leute hätten genug von „9/11“, erhielt er zur Antwort, sie wollten es nicht mehr sehen. Suson sagt, ein Besuch im Anne-Frank-Museum in Amsterdam habe alles geändert. „Wenn Millionen Besucher zu diesem kleinen Raum pilgern, können Sie auch in mein Loft kommen, um die Bilder und die Sammlung meiner Fundstücke zu sehen.“15 Minuten RuhmDer Workshop öffnete im August 2005 und bekam exzellente Kritiken. Suson genoss gerade seine 15 Minuten Ruhm, als in der „New York Post“ die Artikelserie einer berüchtigten Klatschreporterin erschien, in der ihm Etikettenschwindel, Korruption und die Ausbeutung von Opfern vorgeworfen wurde. Folgt man Suson, wurde er Opfer einer Intrige, die Steve Cassidy, Nachfolger und Feind Sanfilippos, angezettelt hatte. Er habe sich den Zugang zu Ground Zero erschlichen, hieß es, und habe sich an Spendengeldern bereichert, nie sei er offiziell ausgewählt worden. Dass andere Funktionäre unter Eid für ihn bürgten, half gegen den Rufmord wenig.Er verklagte Rupert Murdochs „New York Post“, der Prozess zog sich Jahre hin. Nach Susons Darstellung wurden alle Lügen und Verleumdungen offenbart; zu Schadensersatz reichte es nicht, weil der Reporterin kein „böswilliger Vorsatz“ nachzuweisen war. Er habe eine Menge bitterer Lektionen aus der Affäre gezogen, sagt Suson, unter anderem: „Wir dokumentieren jede unserer Spenden an karitative Organisationen (wie etwa den Hinterbliebenenfonds der New Yorker Feuerwehr) schriftlich und auf Twitter und Facebook. Wir reden über unsere guten Taten, auch wenn ich das früher schrecklich fand – in Notwehr.““American Brother“Es hat Zeiten gegeben in Susons Leben, als er nichts mit sich anzufangen wusste und Monate und Jahre vergeudete. Seine Mutter rettete ihn. So berichtet er es, und es kommen ihm die Tränen – sie starb im Januar dieses Jahres. Als der begabte Fotograf, als Teenager schon mit diversen Auszeichnungen bedacht, die Lust am Fotografieren verlor, ließ sie es nicht gelten. Sie kaufte ihm eine teure Kamera, „und ohne diese Kamera hätte ich die Bilder auf Ground Zero nie machen können“.Seiner Mutter zuliebe, die aus Chicago zur Eröffnung des Museum-Workshops kam, brach Suson sein Gelübde, nie mehr Ground Zero zu besuchen. Ob sein Workshop nach Eröffnung des großen Memorial-Museums an Ground Zero fortbestehen wird, weiß Gary Suson noch nicht. „Wir sind ein kleiner Fisch, sie sind der Wal.“ Vielleicht gibt es Interesse an seiner Sammlung, Gespräche laufen. Er hätte nichts dagegen, zum Theater zurückzukehren. Er hat ein Zwei-Personen-Stück geschrieben, „American Brother“, das an einer Off-Broadway-Bühne in Arbeit ist. Der Held ist ein New Yorker Feuerwehrmann an „9/11″.Ich habe Präsidenten getroffen, die englische Queen, fabelhafte Menschen, und ich bin dankbar dafür“, sagt Virginia „Ginny“ Bauer. „Aber würde ich auf alles verzichten, könnte ich meinen Ehemann zurückhaben.“ Als wir sie im August 2002 zum ersten Mal trafen, war sie die prominenteste Sprecherin der „9/11“-Frauen. In Fernsehinterviews, in Magazinen, in Gremien mit Politikern, sogar auf einem Frontbesuch im Irak mit Hollywood-Stars machte Bauer (damals 45) eine fabelhafte Figur. Viele bewunderten ihre Haltung, von manchen dummen Frauen wurde sie beneidet. Die Leichtigkeit, mit der sie in die Rolle der politischen Witwe und Anwältin wuchs, erregte Misstrauen. Auch ihr eigenes: Sie zog sich zurück, als andere übernehmen konnten: „Ich wollte nicht ewig Ginny Bauer, die ,9/11′-Witwe sein.“Es musste gehandelt werdenNiemand kann bestreiten, dass sie Ende Dezember 2001 einen glänzenden Sieg für alle Angehörigen errang, als ihre Forderung einer Steuerrückerstattung für die Jahre 2000 und 2001 durch den Kongress gebracht wurde. Bauer begriff früher als andere, dass sie handeln mussten, bevor das Mitleid ihrer Mitmenschen wie der Politik nachlassen würde. Ihr Mann David, leitender Manager bei dem Finanzdienstleister Cantor Fitzgerald, der drei Viertel der Belegschaft, 700 Angestellte verlor, wäre stolz auf sie gewesen. „Ich denke noch immer jeden Tag an ihn und vermisse ihn sehr.“ So sehr, vermutet sie, wie ihre Kinder David (26), Stephen (24) und Tochter Jackie (20). „Aber sie waren es, die mich gedrängt haben, wieder zu heiraten.“Im Oktober 2007 – Bauer muss einen Moment nachdenken, um das auf das Datum zu kommen – heiratete sie „einen wundervollen Mann und netten Kerl“, Donald Steckroth, Richter an einem Bundesgericht. „Natürlich ist es nicht dasselbe wie damals.“ Ihr David betete sie an. Sie hatten einander gekannt, seit sie elf Jahre alt gewesen waren; 22 Jahre waren sie verheiratet. Er war ein ehemaliger Football-Profi gewesen, noch am letzten Wochenende seines Lebens nahm er an einem Triathlon teil.Der kleinste gemeinsame NennerBauer wollte kein Mitleid, sondern Gerechtigkeit. Ihr Mann hatte glänzend verdient; sie sah nicht ein, dass jeder mit derselben Summe entschädigt werden sollte. Wie konnten im Tod Menschen gleichgemacht werden, die im Leben nicht mehr teilten als den Arbeitsplatz World Trade Center? Bauer wehrte sich (vergeblich) dagegen, als im staatlichen Entschädigungsgesetz für die Hinterbliebenen Lebensversicherungen verrechnet wurden. Von Neidern wurde sie als „Money Girl“ geschmäht. Vor die Wahl gestellt, über Jahre privat zu prozessieren oder die Entschädigung der Regierung anzunehmen, entschied sie sich letztlich „für den Spatz in der Hand“.Als sie sich zurückzog, aber unbedingt wieder arbeiten wollte, halfen ihre politischen Verbindungen. Bauer wurde Chefin der staatlichen Lotterie von New Jersey, diente vier Jahre lang als Wirtschaftsministerin. Zu ihren prestigereichsten Aufsichtsratsposten zählt ihre Arbeit in der Port Authority of New York and New Jersey, die die Brücken, Tunnel, Flughäfen der beiden Staaten kontrolliert – und auch das Gelände des World Trade Center.Diese Funktionen bilden ihren „Regierungshut“, ihr Geld verdient sie als Vorstandsvorsitzende des Unternehmens GTBM, das Patente an elektronisch lesbaren Sicherheitsausweisen hält. „Von der Technik verstehe ich nicht viel“, gesteht Bauer, „man schätzt es dort, dass ich viele Leute kenne und Türen öffnen kann.“In ihrem vornehmen Viertel in Red Bank in New Jersey pflegen Frauen nicht zu arbeiten. Der hinreißende Blick aus ihrem Wohnzimmerfenster über den Fluss Navesink fällt auf das Multimillionenanwesen des Rockstars Jon Bon Jovi am anderen Ufer. Der neue US-Botschafter in Berlin, Philip Murphy, war ein Nachbar und ist ein enger Freund.Der Tag der alle gleich machteOhne für einen Augenblick zu vergessen, was ihr geraubt wurde, hat Bauer nach „9/11“ weitergekämpft und sich weiterentwickelt. Die Opferrolle, in der manche sich veredelt fühlen und so aufgehoben, dass sie in ihr verharren, lag ihr nie. Sie hat Ungeduld mit ihrer Trauer erlebt: „Bald wollte niemand mehr hören: ‚Ach, ich fühle mich einsam, und mein Leben stinkt mir‘; ich bemerkte es rasch und sagte nur noch, dass es mir großartig gehe.“ Auch andere Hinterbliebene berichten von dem grotesken Phänomen, dass jeder, dem sie ihr Schicksal zu erkennen geben, sofort seine eigene „9/11“-Story erzählte, als habe jeder an jenem Tag dasselbe erlitten.Bauer ist politischer geworden, skeptischer, nicht weniger patriotisch: „Ich glaube noch immer, dass ich im großartigsten Land der Erde lebe.“ Doch die Welt sei viel härter geworden, auch Bauer. Als sie vom Tod Osama Bin Ladens erfuhr, war sie glücklich. „Ich hatte die Gelegenheit, Präsident Obama dafür zu danken. Ich gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange und sagte zu ihm: ‚Bitte, Mister President, geben Sie ihn den Navy Seals weiter.'“


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